Das Ende der Friedfertigkeit

Margarete Mitscherlich
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Krieg ist männlich. Nach wie vor wird vom Mann verlangt bzw. verlangt er von sich, seine Gefühle zu unterdrücken, sich wenn nötig mit Härte gegen "Feinde" oder Rivalen durchzusetzen, Erfolg zu haben und möglichst "rational" zu denken und zu handeln – was heißt, sich die dahinter stehenden Affekte und Gefühle nicht bewusst zu machen. Und, last but not least, seine Überlegenheit, vor allem Frauen gegenüber, aufrechtzuerhalten. Von Frauen wurde dagegen über Jahrhunderte und bis heute Gefühls- und Einfühlungsfähigkeit verlangt. Es wurden Aufopferung und Hilfsbereitschaft erwartet, Mütterlichkeit und Liebe für die Schwachen dieser Welt. Außer natürlich für solche, die Minderheiten angehören, welche von Teilen der Männerwelt zu Sündenböcken gemacht oder zu "Feinden" erklärt werden.

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Nachdem Europa in Trümmern lag – eine Situation, für die die sexistisch-rassistische Männlichkeitsideologie wesentlich verantwortlich war –, standen die "Ideale" harter Männer und sich ihnen hingebender Frauen auf der Skala der Werte zunächst nicht mehr hoch im Kurs. Erst der Frauenbewegung Anfang der siebziger Jahre ist es gelungen, Frauen wie Männern bewusst zu machen, wie falsch und hohl ihre bisherigen "Ideale" und "Werte" waren. Den "idealen" deutschen Mann von früher schien es nicht mehr zu geben. Plötzlich gab es bei uns Männer, die keine Söhne mehr haben wollten, sondern Töchter. Wie sie sich ihren Sohn wünschten, war den Vätern unklar, aber eben auf keinen Fall so, wie "der" Mann bisher gewesen war und wie man sie selber gemacht hatte.

Seit der Wiedervereinigung jedoch beherrscht viele Deutsche erneut das Verlangen nach einer "nationalen Identität", was immer darunter verstanden wird. Und Nationalismus und Machismus sind traditionell miteinander verbunden. Außerdem: mit wem oder was, mit welcher Periode der "verspäteten" deutschen Nation wäre es seit Auschwitz denn denkbar, sich identisch zu fühlen?

Welche skurrilen und vereinfachenden Fluchtwege immer neu gefunden werden, um den mühsamen Prozess des Nichtverdrängens, des Erinnerns und Verarbeitens zu umgehen, das zeigen so manche Äußerungen von Politikern und Prominenten, wenn es darum geht, Deutschlands Teilnahme an kriegerischen Aktionen zu begründen. So geriet die Parole "Nie wieder Krieg" zunehmend in den Hintergrund, seit die Protestler von einst an der Macht sind. "Neue Männer" braucht das Land!

Männer, die ehrenvoll kämpfen dürfen, an der Seite der Verbündeten, deren "Werte" sie teilen. Erstmalig nach 1945 nahmen im Kosovo deutsche Soldaten an Kriegshandlungen teil, um – wie wir hörten und lasen – gegen "Hitler" an der Seite der Alliierten zu kämpfen. Devise: Nie wieder Auschwitz! Unter einer solchen Prämisse wird Krieg selbstverständlich zur moralischen Notwendigkeit.

Oder ist es in Wahrheit ganz anders? Wollen Deutsche die Geschichte rückwärtig korrigieren, um die gegenwärtigen Taten zu rechtfertigen? Schon Saddam Hussein wurde zum "Hitler" erklärt, und im Kampf gegen Milosewic versuchten Deutsche, ein neues "Auschwitz" zu verhindern. Endlich konnten wir unsere verlorene Moral, unsere verlorene Ehre wieder herstellen, indem wir nachträglich mit unseren Verbündeten gegen "Hitler" in den Krieg zogen.

Und die Folgen? Die Tyrannen blieben letztlich ungeschoren. Das Volk im Irak, im Kosovo und in Serbien jedoch trägt schwer an den Folgen unseres "gerechten" Krieges. Täglich sind wir Zeugen neuen Elends, neuer Gewalt. Wie schnell kehrten wir zu den primitivsten psychischen Abwehrmechanismen der Projektion, der Spaltung und der Realitätsverleugnung zurück – es gibt nur Böse und Gute.

Schon Hitler war äußerst geschickt darin, sich die Ressentiments gekränkter deutscher Männer anzueignen, die nach der Kapitulation 1918, dem "Schandvertrag" von Versailles und dem Elend des ökonomischen Absinkens ihren Höhepunkt erreichten. Die gekränkten deutschen Männer sahen in Hitler den Retter des Vaterlandes. Sie kannten die Neigung des Führers zu extremen Entschlüssen und waren bemüht, ihm in der Durchsetzung seiner Wünsche so weit wie möglich zuzuarbeiten. Der Hass auf die Juden war das emotionale Movens, das Hitler antrieb.

Für Hitler und seinesgleichen waren auch die Frauenemanzipation und die sexuelle Liberalisierung eine "jüdische Erfindung", für andere Männer vor und nach ihm eine Vergewaltigung der Natur. Gottfried Feder (1932), der spätere Gründer der NSDAP, schreibt: "Durch die Kräfte der sexuellen Demokratie hat der Jude uns die Frau gestohlen. Unsere Jugend muss sich erheben, um den Drachen zu töten, damit wir von Neuem die heiligste Sache der Welt erlangen können, die Frau als Jungfrau und Dienerin."

Das Aufheizen deutscher Ressentiments, deren Pseudorechtfertigung durch grobe Projektionen, waren die Lunte, mit der das Feuer entfacht wurde. Der massenhafte Zulauf in nationalsozialistische Parteien und deren verschiedene Organisationen war offenbar nicht mehr aufzuhalten. Es fiel ihm und seinen Genossen auch nicht allzu schwer, manche Frauenbewegte dazu zu bringen, sich für die nationalsozialistischen Frauenbünde zu entscheiden. Auch viele der Frauen hingen am Munde Adolf Hitlers mit religiöser Hingabe.

Die radikalen Feministinnen, die solchen Versuchungen nicht erlagen – Frauen wie Anita Augspurg oder Lida Heymann –, und die Sozialistinnen wurden sofort nach der Machtergreifung Hitlers erbarmungslos verfolgt. Viele mussten emigrieren. Mit der Diffamierung des kämpferisch-pazifistischen Teiles der Frauenbewegung, der für Frieden und Gerechtigkeit eintrat, hatte Hitler bis weit über seinen Tod hinaus Erfolg.

Ein keiner Reflexion mehr zugänglicher Komplex von Männlichkeitswahn, Paranoia und Gewalt war die Grundlage der nationalsozialistischen Ideologie. "Humanitätsduselei" war ein schon von den Nazis häufig gebrauchtes Schlagwort, wenn Einspruch gegen ihr menschenverachtendes Verhalten erhoben wurde. Im Nu werden so aus Werten Unwerte und vice versa.

Auschwitz als Synonym für die Totalisierung technisierter Unmenschlichkeit war in den Augen der sich Härte, Rassenreinheit, vaterländische Treue und Heldentum als höchstes Gut abfordernden deutschen Männer des Dritten Reiches eine Art nationaler Selbsttherapie. War auch der Kosovo-Konflikt eine Art nationale Therapie für Deutschland? Zumindest wirkte er identitätsstiftend für "echte" Männer. Hinzu kommt die zwischen Männern – trotz aller Rivalitätskämpfe – starke erotische Bindung, die Frauen erst noch lernen müssen. Macht macht erotisch, weiß der Volksmund.
 
"Anstatt die Frauenfrage zu lösen, hat die männliche Gesellschaft ihr eigenes Prinzip so ausgedehnt, dass die Opfer die Frage gar nicht mehr zu fragen vermögen", schrieb Adorno schon 1951. Die Gefahr, dass es auch jetzt wieder rückwärts geht, besteht, wenn wir Frauen nicht endlich lernen, weibliche Friedfertigkeit rechtzeitig aufzukündigen – und Machtmissbrauch und männliche Gewalt zu bekämpfen.

Der Nahe Osten ist ein trauriges Beispiel dafür, wie schnell wir Frauen den Männern wieder ausgeliefert sein können. Und in den nach muslimischem Recht regierten Ländern wurden Frauen so gut wie alle Rechte genommen. Wer zu lange Opfer ist oder die Rolle des Opfers übernimmt, wie das für Frauen über Jahrhunderte selbstverständlich war, neigt zu dem Glauben, dass es für ihn etwas anderes als Machtlosigkeit nicht geben kann. Hatte Adorno also Recht?

Es ist bekannt, dass Frauen, die zu einer Verinnerlichung ihrer Aggressionen erzogen werden, durch die ihnen traditionell unterstellten Schuldgefühle besonders gut manipulierbar sind. Ihnen fehlt die Distanz zu solchen Vorwürfen. Sie können oft angemessene von unangemessenen Schuldgefühlen nur schwer unterscheiden. Sich von solcher Resignation und falschen Vorstellungen von Weiblichkeit zu befreien, Machtlosigkeit nicht mit Schuldlosigkeit zu verwechseln, das ist eine wieder zunehmend notwendige Aufklärungsarbeit für Frauen wie für Männer.

Es gibt Emotionen, die den Verstand vernebeln, und solche, die ihn erhellen. Ein Verstand ohne Wissen über seine Gefühle ist der Flachheit und den Begrenzungen des Denkens ausgeliefert. Mittlerweile ist es Forschern auf unterschiedlichen Gebieten klar, dass die Qualität des Verstandes von der Lebendigkeit der Gefühle abhängt, bzw. der Fähigkeit, diese differenziert wahrzunehmen. Dazu bringen Frauen traditionell die besseren Vorbedingungen mit.

Die den Frauen durch ihre Erziehung nahe gelegten Werte der "Weiblichkeit" haben also auch ihre Vorzüge, denn Frauen lernen durch deren Verinnerlichung, differenzierter mit ihren Gefühlen umzugehen, der Kontakt zu ihrer Gefühlswelt ist gewöhnlich ungestörter als beim Mann. Leichter als er kann sie sich deswegen in andere Menschen einfühlen und den anderen als anderen wahrnehmen, was die Entwicklung der emotionalen Intelligenz fördert.

Wenn sich solche Fähigkeiten mit Wahrheitsliebe und Durchsetzungsvermögen verbinden, könnten Frauen lernen, mit Macht menschenfreundlicher umzugehen, als es der Männerwelt bisher gelungen ist. Für eine unkriegerische, menschliche Zukunft müssten die Frauen kämpferischer und Männer friedlicher werden, Frauen rationaler und Männer emotionaler, Frauen kritischer und Männer endlich mitfühlender.     

Die Autorin ist, neben ihrem verstorbenen Mann Alexander Mitscherlich, die führende Psychoanalytikerin im Nachkriegsdeutschland und seit Anfang der 70er Jahre bekennende Feministin. Sie veröffentlichte u.a., zusammen mit ihrem Mann, "Die Unfähigkeit zu trauern", dessen titelgebender Essay von ihr ist und zum Schlagwort für die mentale Verfassung einer ganzen Nation wurde. Von ihr erschien zuletzt "Trauer ist der halbe Trost".

 

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Alice Schwarzer schreibt

Margarete Mitscherlich: "Ich bin uralt!"

Margarete Mitscherlich und Alice Schwarzer. Foto © Bettina Flitner
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Mai 2010. Ich sitze mit Margarete Mitscherlich in ihrer Wohnung im Frankfurter Westend, mit Blick in blühende Kastanien und flammende Rotbuchen. Wir reden seit ­Stunden: über sie, über mich, über das Leben, vor allem aber über sie.

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Ich kenne Margarete seit nun 35 Jahren und muss sagen: Der 92-Jährigen ist nicht die geringste Einschränkung anzumerken. Sie ist temperamentvoll, hellsichtig und chaotisch wie immer. Nur wenn sie aufsteht und ihre Wohnung durchquert, zahlt sie einen Tribut ans Alter: Die lebenslang schier Bewegungssüchtige ist seit ein paar Jahren wegen einer Rückgratverletzung eingeschränkt im Gehen und muss seit einigen Monaten einen Rol-lator benutzen. Das kränkt die so ewig junge Margarete. Doch sie scheint sich inzwischen damit abgefunden zu haben.

Auf den Spuren der eigenen Prägungen dieser Psychoanalytikerin, die über Jahrzehnte an der Seite von Alexander Mitscherlich mit so kühnen Schritten weit über die Grenze ihrer Disziplin hinausgeschritten ist, war bisher immer eher von der Mutter die Rede, dieser deutsch-national und frauenrechtlerisch ­gesinnten Frau, die es bis zur Schuldirektorin gebracht hatte, die Familie bestimmte und ihre einzige Tochter, ein Wildfang, in den ­ersten Schuljahren zuhause unterrichtete.

Sie fragte sich: "Habe ich genug gegen die Nazis getan in dieser Zeit?"

Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Vater, der dänische Landarzt Nis Peter Nielsen, als der Einfühlsamere und Tolerantere in der Familie. Vor allem von ihm, dem Vater, scheint dieses deutsch-dänische Mädchen die Fähigkeit zu Toleranz und Haltung zugleich gelernt zu haben – diese Eigenschaften, mit denen sie fünfzig Jahre später, zusammen mit Alexander, der deutschen Seele mit dem ­gemeinsamen Schlüsselwerk „Die Unfähigkeit zu trauern“ einen Spiegel vorhalten wird.

„Aber wirklich politisiert wurde ich erst durch Hitler“, sagt Margarete Mitscherlich rückblickend. Von der Mutter auf eine deutsche Schule geschickt und dort von einer geliebten Lehrerin für Literatur und Philosophie begeistert, muss die Dänin zum nationalsozialistischen „Arbeits­dienst“ und studiert sodann in München Medizin. Sie gehört zu einer Gruppe von StudentInnen, die die Nazis hassen – doch gleichzeitig nicht ihr Leben riskieren wollen. „Habe ich genug gegen die Nazis getan in dieser Zeit?“, wird sie sich später immer wieder fragen – und dann sehr viel tun mit ihrer Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels in der Nachkriegszeit.

Als die damals 30-jährige Ärztin 1948 in der Schweiz dem verheirateten Alexander ­Mitscherlich begegnet und beschließt, die so gar nicht geplante Schwangerschaft dennoch auszutragen, da ist das für diese Zeit ein unerhörter Entschluss. Auch wenn es erleichternd ist, dass ihre dänische Familie weit davon entfernt ist, eine ledige Mutter zu verstoßen.

Im Gegenteil: Die Mutter nimmt das Kind für zwei, drei Jahre auf, als Margarete mit ihrer Fortbildung beschäftigt ist. Margarete und Alexander heiraten erst sechs Jahre nach der Geburt ihres Sohnes Matthias.

Sie macht sich nun auf den Weg nach London, um von den dort im Exil lebenden Psychoanalytikern zu lernen. Zurück in Deutschland wird Margarete Mitscherlich in den 50er und 60er Jahren in dem Land, aus dem die Nazis die Psy­choanalyse verjagt hatten, rasch zur Schlüsselfigur bei der Ausbildung. Sie prägt mehrere Generationen von AnalytikerInnen in Deutschland. Zwanzig Jahre später legt die chronisch Unangepasste sich mit der inzwischen etablierten Psychoanalyse an: Sie fürchtet eine zu starke Verschulung und ­Bürokratisierung dieser nur frei so kreativen Methode zur ­Selbst­erkenntnis. 1972 veröffent­licht Margarete ihr erstes Buch ohne ­Alexander: „Müssen wir ­hassen?“ (1972), das rasch zum Geheimtipp nicht nur unter ­Feministinnen wird.

Sie schrieb in EMMA: "Ich bin Feministin". Der Skandal war komplett

Wir begegnen uns zum ersten Mal im Herbst 1975. Da hatte sich das TV-Kulturmagazin TTT etwas ganz besonders Listiges ausgedacht: eine Konfrontation zwischen der renommierten Psychoanalytikerin und der skandalösen Feministin, die gerade den „Kleinen Unterschied“ veröffentlicht hatte. Darin hatte ich mir nicht nur erlaubt, die Seelenvorgänge von Frauen zu analysieren, sondern auch unter anderem Sigmund Freud, Alexander Mitscher­lich und Michael Balint (Margaretes ­Lehr­ana­lytiker in London) ganz en passant vors Schien­bein zu treten. Also war für die anderen die Überraschung groß: Margarete und ich sympathisierten spontan. Seither sind wir Freundinnen und politische Weggefährtinnen.

Bereits in der ersten EMMA-Ausgabe im Januar 1977 schrieb Margarete Mitscherlich unter dem provozierenden Titel: „Ich bin Feministin“. Der Skandal war komplett. Eine anerkannte Psychoanalytikerin, die sich selber als Feministin“ bezeichnet – was denn noch?! Das plagte nicht nur ihren Ehemann, der’s eigentlich schon gewöhnt war. Das schockierte vor allem ihre Branche und das ­Intellektuellen­milieu, zu dessen führenden Köpfen die ­Mitsche­rlichs seit den 1960er Jahren zählten. Und Margarete? Die amüsierte es.

Denn das ist von klein an ihr Liebstes: Sich mit Schwung zwischen alle Stühle setzen! Auch mit den Feministinnen legte sich die von denselben so Geschätzte ziemlich rasch an. „Wir Frauen sollten uns davor hüten, uns Illusionen über uns selber hinzugeben“, schrieb die Analytikerin in der Hochzeit der Frauen-gemeinsam-sind-stark-Euphorie. Denn: „Es geht für uns zwar auch, aber nicht nur um die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Von nicht ­geringer – vielleicht noch größerer – Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit den psychi­schen Zwängen, das heißt, mit der bei den meisten Frauen noch immer ungebrochenen Verinnerlichung ihrer gesellschaftlichen ­Degradierung.“ Was ja nicht nur die Selbstverachtung, sondern auch die Verachtung anderer Frauen zur Folge hat. Emanzipation ist eben nicht nur Fun, sie kann auch weh tun.

Sie setzt sich
mit Schwung zwischen alle Stühle

Übrigens, in all den Jahrzehnten habe ich noch nie erlebt, dass Margarete Mitscherlich ihre professionelle Kompetenz ausgenutzt hätte, um Macht auszuüben. Nie, niemals, hat sie mich oder einen anderen Menschen psychoanalytisch „interpretiert“.

Jetzt im Alter nimmt Margarete Mitscherlich sich mehr Zeit für sich selber – und begibt sich erneut neugierig auf die Spuren ihres ­eigenen Lebens. Im September wird die Frucht dieser Spurensuche erscheinen: „Die Radikalität des Alters“ (Fischer) mit Texten zu ihren großen Themen, vom Verdrängen bis zur ­Emanzipa­tion, sowie einem autobiografischen Text über ihr Leben.

Dieses Leben, das das Fühlen und Denken mehrerer Nachkriegsgenerationen in Deutschland geprägt und uns die Augen ­geöffnet hat.

***

Alice Schwarzer: Verflixt. Das ist ein neues Aufnahmegerät. Digital. Wie funktioniert das nochmal?! Rede doch einfach mal los, Margarete.
Margarete Mitscherlich: Ich heiße Margarete Mitscherlich, bin 92 Jahre alt und halte es für eine Zumutung, dass Menschen nicht nur alt werden, sondern auch noch sterben müssen.

Ah, es funktioniert. Triumph der Technik! Es kann losgehen. Gibt es eigentlich etwas, was dich überrascht am Alter, Margarete?
Ich habe mir niemals mich als alt vorgestellt. So wie diese armen Menschen, die sich nicht mehr selber helfen können und so eine peinliche Karre vor sich herschieben müssen beim Gehen … Natürlich wusste ich mit dem Verstand, dass ich eines Tages alt werden würde. Aber es war trotzdem nicht vorstellbar für mich. Die Alten, das war eine andere Sorte Mensch als ich. Alles, was man nicht selber erlebt hat, ist in Wahrheit gefühlsmäßig nicht vorstellbar.

Ist das Alter so irrealisierbar wie der Tod?
Nein. Die Alten sehen wir ja. Den Tod aber haben wir nicht vor uns.

Im Zusammenhang mit dir kommt es mir schwer über die Lippen. Aber es nutzt ja alles nichts: Du bist jetzt 92. Du bist alt.
Ich bin uralt.

Wenn die alte Margarete der jungen Margarete heute erzählen müsste, was sie im Alter erwartet – was würde sie da sagen?
Darüber habe ich noch nie nachgedacht … Wenn damals jemand gekommen wäre und zu mir gesagt hätte: Du bist jetzt 30 – und du wirst eines Tages 90 sein, und das wird verdammt schwer für dich werden, denn du hast immer sehr viel Wert darauf gelegt, beweglich zu sein und über deinen Körper herrschen zu können, grenzenlos. Dann hätte ich gesagt: Quatsch, warum sollte ich nicht mehr gehen können?! Mein Großvater konnte mit 97 noch gehen, und meine Mutter ist mit über 90 noch nach Afrika gefahren und bis 97 klar geblieben. ­Wenigstens das habe ich erfreulicherweise von ihr geerbt. Im Denken und Fühlen bin ich heute wie damals, mit 30. Also dieses Mehrwissenwollen und das Erkennenwollen von Wahrheit. Worauf kommt es an, und was ist Quatsch? Das hatte ich schon mit 30, wenn nicht mit 20. Und das habe ich bis heute. Ich verstehe noch immer die Person, die ich mit 30 war. Aber die Person, die ich mit 30 war, würde mich nicht verstehen.

Du hast gute Bedingungen, eine moderne großräumige Wohnung mit Fahrstuhl, einen großen Balkon mit Blick in die Bäume vom Frankfurter Westend. Und du musst dir ökonomisch keine Sorgen machen. Doch wie regelst du deinen Alltag?
Ich bemühe mich, möglichst wenig ­abhängig zu sein. Ich habe so viel Hilfe, wie ich brauche: zum Einkaufen, Putzen etc. Und da gibt es natürlich auch einen Kreis von Freundinnen, die sich kümmern. Aber ich kann nur selten ausgehen. Und ich kann nicht mehr reisen, an meinen geliebten Lago Maggiore, meine zweite Heimat, oder quer durch die Welt.

Und wie nehmen dich die anderen heute wahr? Fühlst du dich in anderer Weise ­gesehen als früher?
Ich weiß nicht … Ich war immer sehr ­darauf bedacht, gepflegt zu sein. Bis heute dusche ich täglich warm und kalt. Und schon als Kind habe ich gedacht: Du musst dich anstrengen, damit die Menschen keinen Ekel vor dir haben. Das mag etwas mit meiner Mutter zu tun haben. Die hatte sehr leicht einen Ekel. Und ich habe bis heute einen regelrechten Sauberkeitszwang.

Und wann hast du dir zum ersten Mal ­gesagt: Jetzt bin ich alt?
Mit 25 (lacht).

Du bist Analytikerin. Das heißt, du hast dein Leben lang den Prägungen der Menschen nachgespürt. Doch was hat dich ­geprägt?
Als erste vor allem meine Mutter, mit der ich mich sehr stark identifiziert habe. Dann meine Lehrerin am Oberlyzeum. Die war eigentlich gar nicht hübsch, sie war dick und hatte einen Watschelgang. Aber sie war brillant und hat uns beigebracht, dass das Geistige etwas Leben­diges ist, etwas Erotisches. Viele von uns Primanerinnen verehrten sie sehr. Und ich stand so manches Mal vor ihrem Fenster. Sie war übrigens eine Anhängerin von Stefan George, und ich lernte mit Eifer viele seiner Gedichte auswendig. Mein drittes großes Erlebnis war die Lektüre von Sigmund Freud. Der war nüchtern und selbstkritisch auf Wahrheitssuche aus. Er war für mich das, was man einen Eye-Opener nennt. Die Begegnung mit der Psychoanalyse war und ist bis heute für mich eine spannende Sache.

Du hast ja zwei Analysen gemacht …
Drei. Die erste bei Vilma Popescu. Die zweite bei Felix Schottländer. Und die dritte dann bei Michael Balint in London.

Du hattest also reichlich Gelegenheit zur Selbsterkenntnis.
Ja.

Und was hast du da entdeckt?
Ich war eigentlich immer schon äußerst selbstkritisch, lesesüchtig und auf neues Wissen aus. Ein Problem ist allerdings meine Eifersucht.

Das war ja bei Alexander vielleicht nicht verkehrt.
Genau. Der hätte sich sonst sonstwas ­erlaubt (lacht). Aber Neid zum Beispiel ist mir eher fremd. Schon, um meiner Mutter zu gefallen, die es gerne hatte, wenn man teilte. Und da ich mit meinem Bruder um die Liebe meiner Mutter konkurrierte, und er nicht so gut teilen konnte, teilte ich umso lieber. Ich spürte dann, wie zufrieden sie war. Ich sah schon an ihren Augen, wie sie sich fühlte, und schon am Ton ihrer Stimme habe ich ­gespürt, welche Stimmung sie hatte. Sie konnte sehr stark Atmosphären verbreiten. Ich war total auf meine Mutter fixiert. Daher das frühe Interesse für alles Seelische. Für Politik habe ich mich eigentlich erst ab Hitler interessiert. Der hat mich mit einem Schlag aufgeweckt.

Beruflich hast du dich lebenslang zwischen Individualanalyse und Gesellschaftsanalyse bewegt.
Es sind aber vor allem die Menschen, die mich interessieren. Wenn man frei assoziiert, also seiner Fantasie freien Lauf lässt, entdeckt man immer auch Überraschendes an sich selbst. In der Fantasie kennst du ja keine Grenzen, und wenn du wütend bist auf jemanden, möchtest du ihn umbringen. In der Nazizeit hatte man permanent Aggressionen. Man zitterte vor Hass in dieser Zeit. Man musste ja quasi zu Hitler beten, oder ihn zumindest anbeten. Karikaturen waren todeswürdig und auf Untreue stand Steinigung, sozusagen. Da hatte man Angst und war sehr gedemütigt.

Du warst dann 1952 eine der Ersten, die in London wieder angeknüpft hat bei den Freudianern, die ins Exil geflüchtet waren. Du hast bei Balint deine Lehranalyse gemacht und bist dann in Deutschland jahrzehntelang die Leiterin des Unterrichtsausschusses der DPV (Deutsche Psychoanalytische Vereinigung) gewesen, hast mehrere Generationen von Analytikerinnen und Analytikern geprägt. Gleichzeitig aber hast du selbst ein durchaus kritisches Verhältnis zur Analyse, empfiehlst sie keineswegs allen.
Es gibt Menschen, deren Leben eine einzige Selbstlüge ist. Wenn man die dann infrage stellt, kann das lebensbedrohend sein. Hinter einer Zwangsneurose steht für gewöhnlich eine sehr aggressive Persönlichkeit. Bei bestimmten Krankheiten oder Abwehrformen besteht dann die Gefahr, dass die ganze Struktur zusammenbricht, wenn man nicht entsprechend vorsichtig analysiert. Und wenn man da zu rasch Deutungen gibt, die das Unbewusste unmittelbar berühren – dann kann so ein Mensch dekompensieren, also Mühe haben, die Realität wahrzunehmen. Du musst bei der Analyse immer langsam vorgehen, wissen, mit welchen Formen von Abwehr du es zu tun hast, die oft seit der Kindheit funktionieren. Diese schwer gestörten Menschen können sehr gesund wirken, manchmal sogar besonders gesund, weil sie eine gewisse starre Selbstverständlichkeit haben: So bin ich! Aber so sind sie in Wirklichkeit überhaupt nicht.

Und wie schaffst du es, sie dennoch in Bewegung zu bringen?
Du musst eine gewisse stabile Beziehung aufbauen. Übrigens bei jedem Patienten. Die Person muss sich ernst genommen fühlen und es auch sein. Dann ist es für die Betroffenen oft eine Erleichterung, sich ihre Gefühle der Wut oder des Hasses zuzugestehen und zu lernen, damit umzugehen. Wer sich freiwillig für eine Analyse entscheidet, ist meist dazu bereit.

Gibt es eigentlich strukturelle Unterschiede im Verhalten von Frauen und Männern auf der Couch?
Das bin ich oft gefragt worden. Und eine eindeutige Antwort kann ich nicht geben. Aber atmosphärisch ist es klar, dass es so etwas gibt. Eine starre Abwehr kann es natürlich bei Männern wie Frauen geben. Aber Frauen, die in die Analyse gehen, sind im Großen und Ganzen ihrer Gefühlswelt sehr viel näher als Männer. Frauen dürfen sentimental sein, weinen, Schuldgefühle haben – Männern wird das nicht zugestanden. Allerdings stehen Frauen ganz anders zu ihrer Sexualität. Für Männer ist ein Seitensprung ein Kavaliersdelikt, für Frauen ein Drama. Was mit Sicherheit das Resultat einer jahrhundertealten Tradition des Erlaubens und Verbietens ist. Vielleicht ändert sich das ja jetzt bei den jungen Frauen.

Und wie reden Frauen auf der Couch über Sexualität?
Männer reden leichter darüber. Frauen erleben Sexualität immer noch als etwas, was sie eigentlich nicht haben dürfen. Zumindest die Älteren.

Sprechen Frauen eher von Liebe und Sehnsucht?
Wenn die Träume analysiert werden, geht es schon zur Sache. Aber real fällt es Frauen schwerer, darüber zu reden. Deswegen war ich sehr überrascht bei Google zu lesen, dass 50 Prozent aller Frauen angeblich Fellatio wollen – und 97 Prozent der Männer. Ich habe in der Analyse oft gehört, dass der oral-genitale Verkehr den Frauen schwer fällt und es sie vor allem ekelt, den Samen zu schlucken.

Ist es nicht gerade in der Sexualität so, dass Frauen oft wollen, was sie wollen sollen?
Ja, das spielt natürlich auch eine Rolle.

Ich finde es schwierig, bei der Sexualität von Männern durchzublicken. Wie geht es dir?
Männer haben fürchterliche Komplexe, wenn sie keine Erektion haben. Der Mann muss eindringen, ob er will oder nicht. Sonst würde die Menschheit aussterben. Aber das erklärt natürlich nicht all diese Perversionen: Kinderpornografie, Vergewaltigungen etc. – das sind vermutlich aggressive Akte von Männern, die Angst vor Impotenz haben.

Hat es schon mal etwas gegeben, was dich wirklich schockiert hat bei einem Patienten?
Naja, sie reden natürlich über alles. Auch über Perversionen. Aber ich habe manchmal schon wirklich Angst gehabt, dass sie ausrasten oder sich selber etwas antun. Zu einem Analytiker kommen ja eher Menschen mit masochistischen Störungen.

Hast du auch schon erlebt, dass Menschen mit dir über kriminelle Fantasien sprechen, die sie in die Tat umsetzen wollen? Pädophile zum Beispiel.
Nein, noch nie. Wer in die Analyse kommt, möchte natürlich von Dingen, die belastend sind, geheilt werden. Gerade Pädophile sind meistens Männer, die in ihren Aggressionen Frauen gegenüber gehemmt sind. Männer, die eigentlich Frauen sein möchten. Ein weites Feld. Schwer zu überschauen, was frühe Anlage bzw. Prägung ist oder was sich auf traumatische Erlebnisse zurückführen lässt.

Gerade erschüttert ja eine Kette von Enthüllungen über den sexuellen Missbrauch von Kindern in Institutionen und Internaten das Land. Die Odenwaldschule ist nur einen Steinwurf von Frankfurt entfernt. Was sagst du zu den Enthüllungen über den Missbrauch von Jungen dort?
Sexueller Missbrauch von Jungen und anderen Abhängigen ist natürlich eindeutig abzulehnen. Unabdingbare Voraussetzung für erlaubte Sexualität ist das Einverständnis auf beiden Seiten der Beteiligten. Sie müssen gleichermaßen für sich verantwortungsfähig sein. Und keiner darf vom anderen abhängig sein.

Kehren wir zurück zum ganz normalen perversen Alltag. Der englische Psychotherapeut Brett Kahr hat 17000 Menschen nach ihren sexuellen Fantasien befragt und festgestellt: Weit über 90 Prozent aller Menschen haben sexuelle Fantasien. Und er geht davon aus, dass speziell die sadomasochistischen Fantasien ihren Ursprung immer in frühkindlichen Verletzungen haben, körperlicher oder seelischer Natur. Teilst du diese Auffassung?
Kann er das belegen?

Anscheinend.
Sexuelle Fantasien hat in der Tat praktisch jeder. Der Inhalt dieser Fantasien kann von traumatischen Erlebnissen geprägt sein, muss aber nicht. Frühkindliche Verletzungen können zu diesem oder jenem Phänomen führen. Da gibt es eine ungeheure Breite von Symptomen. Es gibt auch im Grund so gut wie niemanden, der keine frühkindlichen Kränkungen erlebt hat. Enttäuschungen sind für das ja total abhängige Kind unvermeidbar. Bei sexuellem Missbrauch fühlt sich auf jeden Fall das Kind schuldig, Junge wie Mädchen. Aber warum führt so eine Verletzung mal zu Sadismus – und mal zu Masochismus? Das scheint weitgehend eine Frage des Geschlechts zu sein: Männer reagieren oft sadistisch, Frauen eher masochistisch. Doch auch das kann umgekehrt sein.

Was hast du eigentlich gemacht, wenn du einen Patienten, eine Patientin nicht leiden konntest? Jeder will doch von seiner Analytikerin speziell wahrgenommen, ja geliebt werden – und du kannst ja nicht alle zurücklieben.
Es ist durchaus auch schon vorgekommen, dass Frauen sich von mir nicht verstanden fühlten – und die Analyse abgebrochen haben. Aber es gab auch Frauen, die einfach selbstverlogen waren. Mit solchen tue ich mich schwer. Aber wenn sie dann doch bereit sind, ihre Abwehr fallen zu lassen, was sie viel Mühe und Kraft kostet, habe ich gelernt, sie zu mögen, ja zu bewundern.

Du sprichst nur von Frauen. Und die Männer?
Männer müssen schon ein bisschen weiblich sein, damit ich sie mag (lacht). Ein Mann, der Männlichkeit mit Starrheit verwechselt, den mag ich nicht. Einmal hatte ich einen Patienten, der impotent war, ein Intellektueller, der durchaus viel verstand, auch von Psychoanalyse. Und der verliebte sich in mich und meinte, bei mir könnte er potent sein.

Und was hast du getan?
Ich konnte ihn ja nicht einfach wegschicken. Es ging ihm einfach zu schlecht. Aber es war schon sehr anstrengend, nicht mit ihm darüber reden zu können, worum es wirklich ging. Er war ganz obsessiv und sagte immer wieder: Ich könnte geheilt werden, wenn Sie mit mir schlafen!

Der war aber dreist.
Dreist? Es wird alles gesagt in der Analyse! Auch zu dem Analytiker, der Analytikerin. Es hat allerdings auch viel für sich, wenn die Menschen ihre Fantasien aussprechen.

Deine Patienten sagen sich vermutlich: Ich bin schwach – und die ist ganz stark. Also kann ich ihr alles zumuten.
So ist es. Die wissen auch, dass man in der Psychoanalyse alles sagen darf. Solche Leute möchten das Schuldgefühl, das sie selber haben, dem anderen machen.

Und was machst du dann?
Du musst sehr viel mit der Analyse der Übertragung arbeiten. Aber manchmal laufen sie dir vorher weg. Und dann sind sie todunglücklich und machen dir große Vorwürfe: Du hättest mich retten können!

Es gibt doch sicherlich auch Spitzfindige, die nach Schwächen bei dir suchen.
Oh ja! Nicht nur suchen, auch finden. Es kann natürlich auch passieren, dass man selber Patienten gegenüber erotische Gefühle hat. Der Therapeut sowieso – aber auch die Therapeutin. Doch wenn man dem nachgibt, dann gnade dir Gott. Dann ist es natürlich nicht mehr möglich, durch Deutungen an das Unbewusste heranzukommen. Konflikte bewusst zu machen und dadurch zu ihrer Lösung beizutragen.

Wie oft hast du dich im Laufe der Jahre denn verliebt in einen Patienten oder eine Patientin?
Das kann ich nicht so einfach sagen. Bei langen Analysen gab es manchmal durchaus Phasen, in denen ich mich selber analysieren musste: Was willst du jetzt eigentlich? Aber das war doch relativ selten. Ich erinnere mich an zwei, drei Fälle.

Männer oder Frauen?
Direkt sexuelle Gefühle – das waren Männer.

Dabei warst du als junges Mädchen ja eher in Frauen verliebt.
Stimmt. Männer waren mir damals vollkommen wurscht. Leidenschaftlich verliebt war ich in meine Lehrerin. Und dann gab es da noch einmal eine Frau … die kam an mein Bett und küsste mich. Das war die Unterscharführerin im Arbeitsdienst. Aber sie hatte offensichtlich genau so viel Angst davor wie ich. Es blieb also bei dem Kuss.

Hat das Tabu Homosexualität nach deiner Erfahrung wirklich vor allem erotische Gründe – oder nicht auch eine sehr starke soziale Komponente? Also dass, ob man es lebt oder nicht, weniger eine Frage des Begehrens ist als mehr eine Frage der Räson.
Das halte ich für sehr wahrscheinlich. Faktisch sind wir ja alle bisexuell. Dann kommt im Laufe eines Lebens entweder das Eine oder das Andere mehr zum Tragen. Aber möglich ist beides. Mir war das immer klar. Nur wehrt man es unbewusst aus Angst vor Sanktionen ab.

Du bist jetzt in einer Phase deines Lebens, in der du Bilanz ziehst. Gibt es etwas, wo du sagen würdest: Das habe ich besonders richtig gemacht?!
Richtig war, meinen Sohn in die Welt zu setzen! Ich hätte ja abtreiben können, es war alles schon geregelt. Aber dann habe ich mich doch entschieden, das Kind zu kriegen. Trotz aller Probleme. Alexander war damals zum zweiten Mal verheiratet, schätzte seine Frau sehr und hatte mit ihr vier Kinder. Er wollte sich keineswegs scheiden lassen. Aber dann hat er zu mir gesagt: Wenn du glaubst, dass du es durchhältst – dann lass uns dieses Kind doch in die Welt setzen. Da war ich erleichtert und dachte: Ja, ich will dieses Kind! Das war 1948, und zu der Zeit war ein uneheliches Kind noch eine große Schande. Zumindest in Deutschland. In Dänemark und in meiner Familie hatte niemand Probleme damit.

Du hast das Kind dann in Konstanz und mit Unterstützung einer Freundin bekommen.
Ja, mit der Geburt des Kindes bin ich eigentlich erst richtig erwachsen geworden. Danach war mir klar, dass die Psychoanalyse der richtige Beruf für mich ist: mit ihrem Streben nach Wissen, Erkenntnis und Glück.

Als dein Sohn Matthias zwei Jahre alt war, hast du ihn für drei Jahre zu deiner Mutter nach Dänemark gegeben, um deine Ausbildung zu machen. Du hast in den vergangenen Jahren immer wieder mal darüber geredet und bist vor allem von Interviewerinnen danach gefragt worden. Und du hast dein schlechtes Gewissen thematisiert, das du deswegen später bekommen hast. Auch dein Sohn hat dir Vorwürfe gemacht.
Matthias hat mir erst sehr viel später Vorwürfe gemacht: als sein Vater nicht mehr lebte und er selbst Vater wurde. Da hat er das mit einem gewissen Genuss thematisiert, denn er wusste, dass ich Schuldgefühle hatte. Dabei war er in Wahrheit bei meiner Mutter sehr gut aufgehoben – und wir haben ihn ja dann auch gleich zu uns geholt, nachdem Alexander und ich geheiratet hatten.

In unserem ersten Interview 1985 hast du ausführlich über deine Kindheit geredet: Als Tochter einer deutschen nationalbewussten Mutter und eines dänischen nationalbewussten Vaters. Deine Mutter war Schuldirektorin und hat dich in den ersten Jahren zuhause unterrichtet. Dein Vater war Arzt und wohl ein freundlicher Mensch.
Ja, innerhalb der Ehe meiner Eltern dominierte eher die Mutter. Ich hatte also nie das Gefühl, dass Frauen weniger wert sind als Männer. Den Männlichkeitswahn habe ich eher intellektuell wahrgenommen, in den Büchern.

Mir fällt auf, dass so einige Faktoren bei dir zusammen kommen, die typisch sind für die Pionierinnen der Frauenbewegung, zu denen du ja gehörst: eine starke Mutter, ein sensibler Vater, die Mädchenschule. Denn die Pionierinnen waren in der Regel ja besonders stark und stolz – und konnten es nur deshalb überhaupt wagen, den Männern zu trotzen. Hinzu kam bei dir, dass du Anfang der 1970er Jahre in Amerika warst, also in der hohen Zeit der Women’s Liberation.
Stimmt. Die Frauenbewegung hatte ich allerdings schon vorher mitgekriegt, durch meine Mutter und deren Freundinnen.

Waren die frauenrechtlerisch aktiv?
Sie waren sehr bewusst, aber sie gingen nicht kämpferisch an die Öffentlichkeit. Und später wurden sie in der Nazizeit gebrochen. In den 1950er Jahren bin ich den Frauenrechtlerinnen dann wieder im Exil in London begegnet sowie den Nachfolgerinnen der Suffragetten. Doch zur neuen Frauenbewegung, die deiner Generation, habe ich eigentlich erst durch dich Kontakt bekommen.

Wir haben uns im Herbst 1975 kennengelernt, apropos des Erscheinens vom „Kleinen Unterschied“, zu dem du mich fürs Fernsehen interviewt hast – und wir zu aller Überraschung spontan heftig sympathisierten. Aber du hattest ja schon 1972 erstmals ein Buch unter deinem Namen veröffentlicht: „Müssen wir hassen?“. Bis dahin hattest du nur zusammen mit Alexander geschrieben.
Nicht ganz. Ich hatte schon in den 1950er und 60er Jahren Artikel über Psychoanalyse und Frauen veröffentlicht, vor allem in der Zeitschrift Psyche. In der Psychoanalyse gab es zeitweilig ja mehr Frauen als in irgendeinem anderen vergleichbaren Beruf, von Karen Horney über Anna Freud bis Helen Deutsch oder Melanie Klein. Die Frauen hatten eine dominierende Rolle. Und dann war da in den 1960er Jahren diese Amerikanerin, die erstmals veröffentlichte, dass auch die Männer embryonal zunächst bis zum dritten Monat weiblich sind …

Mary Jane Sherfey …
Genau! Das war wunderbar. Ich habe es regelrecht genossen! Und dann auch selber darüber geschrieben.

Ja, das war ein wirklicher Triumph. Nach all dem albernen Biologismus kommt raus: Wir Frauen sind das Eigentliche, die Männer sind die Variante.
Den Männern fehlt ja auch ein Chromosom. Die Ärmsten (Gelächter). Aber die Frauen, die sich in der Psychoanalyse zusammengetan hatten, waren selten poltisch. Die Frauenbewegung deiner Generation war eine ganz neue Kraft.

Es gab in der Frauenbewegung der 1970er Jahre eine große Euphorie. Frauen gemeinsam sind stark! etc. Da wurden die inneren Widersprüche kräftig verdrängt. Darüber hast du ja auch geschrieben.
Ja, so manche lautstarke Feministin wurde irgendwann von ihren eigenen Widersprüchen eingeholt. Denn wenn die nicht eingestanden und verarbeitet sind, kann es tückisch werden. Was mich an der deutschen Frauenbewegung vor allem störte, war das Ideologische. Genau wie bei den 68ern. Da gab es ganz fanatische Frauen, für die alle Männer böse waren. Diese Art von Schwarz/Weiß-Denken und die Unfähigkeit, Ambivalenzen zu ertragen, fand ich unerträglich.

Kann es sein, dass diese Mütter-Generation ihr eigenes Erschrecken über sich selbst wortlos an die Töchter weitergegeben hat?
Das wäre klassisch. Dass die Kinder die Widersprüche und Traumata ihrer Eltern ausleben müssen.

Erklärt sich vielleicht so auch das in Deutschland besonders starke Revival der so genannten „Weiblichkeit“ und „Mütterlichkeit“?
Das ist durchaus denkbar. Die „Rabenmutter“ gibt es ja auch nur in Deutschland. Die Feministinnen in Amerika waren immer viel nüchterner und unideologischer, souveräner und mit mehr Power. Du bist ja ganz untypisch für die deutschen Feministinnen.

Und auch ich habe ja unter diesen Dogmatikerinnen sehr gelitten. Die waren mir sehr fremd. Aber so was hat man früher nicht gesagt, aus Solidarität. Alice Schwarzer konnte sich ja schlecht von der deutschen Frauenbewegung distanzieren … In Wahrheit aber war ich hier aber immer nur eine Außenseiterin und Einzelkämpferin.
Das kann ich mir gut vorstellen. Wir waren hier eben noch stark geprägt von diesem Herrenmenschentum und dem Freund/Feind-Denken. Die Nazis waren Menschen gewesen, die nur projizierten und die anderen Menschen zum „Juden“ machten. Alles Böse war bei den Anderen – und alles Gute bei ihnen. Mit dieser quasi religiös verbrämten Projektion und Entwertung konnten sie Millionen Menschen umbringen. Denn diese Anderen waren ja wertlos und bedrohten das Gute. Und ihre Töchter und Söhne waren natürlich unbewusst von diesem Denken geprägt. Unerträglich sowohl bei den 68ern wie in der Frauenbewegung war auch diese Lust am Denunzieren.

Die Menschen sind überall auf der Welt nicht einfach, aber diese Selbstgerechtigkeit, die scheint wirklich ein typisch deutscher Charakterzug zu sein.
Na, das hast doch auch du am eigenen Leib erlebt. Ich erinnere mich, als du die erste Ausgabe von EMMA vorbereitet hast, für die ich dann auch geschrieben habe. Da wurde ich von feministischer Seite gewarnt, ich sollte mich vor dir hüten und auf keinen Fall bei EMMA mitmachen. Du würdest diese Zeitung nur aus Geltungssucht und auf dem Rücken der Frauenbewegung machen. Das erregte natürlich nur meinen Widerspruch!

Ja, gerade das Klima in Berlin war unerträglich dogmatisch, sehr selbstgerecht und sehr denunziatorisch. Ich bin dann ja auch ziemlich schnell da weggegangen und habe mich in Köln in der EMMA-Redaktion vergraben. Nutzte aber nichts: Meine Schwestern verfolgten mich weiter mit ihrer Häme. Doch du hast einige Jahre später ja dann ganz ähnliche Erfahrungen gemacht. Nicht mit der Frauenbewegung, aber mit deinem Milieu, den Psychoanalytikern. Nach dem Tod von Alexander 1982 ging die Hexenjagd los.
Oh ja, ich erinnere mich nur zu gut. Es war sehr unerfreulich, aber vorauszusehen. Freundliche Kollegen bedauerten, dass hierzulande die Witwenverbrennung nicht mehr üblich ist. (lacht)

Die Zeiten sind vorbei. Heute hagelt es die Ehrungen für Margarete Mitscherlich. Aber so manche weiterhin im Lagerdenken Verhaftete waren doch befremdet darüber, dass du, die „Linke“, aus deiner Freude über die erste deutsche Kanzlerin keinen Hehl gemacht hast.
Ich habe mich sehr gefreut! Und Angela Merkel ist ja auch ein vernünftiger und nachdenklicher Mensch. Sie ist Christin, im Wie-auch-immer-aber-doch-Sozialismus aufgewachsen und eine wirkliche Demokratin. Ich fürchte nur, dass es ihr, wie uns allen, schwer fällt, nicht immer nur geliebt zu werden. In der schwarzroten Regierung hatte ja noch jeder vom anderen gelernt. Sie hat über das Ideologische bei den Sozialdemokraten gesiegt, und von denen übernommen, dass man die Kluft zwischen Arm und Reich überbrücken muss. Doch in der Konstellation mit der FDP scheint sie mir gar zu sehr auf der etablierten Seite und zu wenig konfliktfreudig.

Was meinst du damit?
Merkel müsste lernen, auch mal Feinde zu ertragen. Ihre Meinung zu vertreten, wenn es notwendig ist – auch wenn sie sich damit Gegner macht. Und wenn es nach mir ginge, würde sie auch nicht mehr in Bayreuth aufmarschieren. Man kann ja Wagners Musik schätzen, aber dieser Spektakel ist nun wirklich recht belastet und unerträglich spießig. Aber jeder nach seinem Geschmack – ich habe es auch immer gehasst, wenn andere mir ihren Geschmack aufdrängen wollten.

Hättest du dir vor dreißig Jahren vorstellen können, dass es im 21. Jahrhundert ein Revival der Religionen gibt, ja sogar des religiösen Fundamentalismus?
Die Nazis waren ja auch Fundamentalisten und die Kommunisten nicht minder. Dann kam, sehr rasch, die Demokratie, für manche vielleicht zu rasch. Sodass diese Entwicklung letztendlich keine Überraschung ist. Allzu viele Menschen gieren ja regelrecht nach solch einfachen Welterklärungen: hie Böse, da Gut. Sie brauchen dann nicht mehr selber zu denken, müssen keine Schuldgefühle mehr haben und keine Verantwortung mehr übernehmen.

Ist das so schwer für die Menschen, Verantwortung für sich zu übernehmen?
Ganz offensichtlich. Es ist auch nicht einfach, ganz ohne Angst vor dem Nichts zu sein, dem du ganz alleine gegenüberstehen wirst. Wenn du stirbst, bist du weg. Aber was heißt das: Weg sein? Du fühlst nicht mehr, du denkst nicht mehr, du redest nicht mehr, du liest nicht mehr … Du kannst dir das Nichts nicht vorstellen. Seit die Menschen Zeugnis geben konnten, haben sie nach Trost, nach Religion gesucht. Ein Volk ohne Religion gibt es nicht.

Und was ist dein Trost, Margarete?
Ich weiß es nicht. Vielleicht muss ich ohne Trost leben und sterben. Wir Menschen sind Teil der Natur und damit auch Teil von „Stirb und Werde“. Aber ob ich mich im Erkennen solcher Zusammenhänge geborgen fühle? Bisher ist es mir nicht gelungen – oder vielleicht doch?

Wie machen wir es, Margarete – soll ich dir den Text zur Abstimmung schicken?
Du kannst ihn mir mailen. Ich maile ja auch immer mit meinen Enkeln.

 

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