Eine Frauen-Epidemie grassiert

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... und sie ergreift vom Westen her die ganze Welt. Wir müssen alle zusammen sehr schnell handeln
Wir haben es mit einer Krise in der westlichen Gesundheit und Gesundheitspolitik zu tun: Es geht um eine Epidemie, die unter Mädchen und Frauen grassiert, die jeden Tag neue Opfer befällt und deren Verbreitungswege weder rätselhaft, noch genetisch bedingt sind. Eine Epidemie, vor der wir die kommende Mädchengeneration bewahren könnten und deren Folgen für die heutigen Mädchen und Frauen wir eindämmen könnten - wenn wir den gesellschaftlichen Willen hätten, diese Aufgabe unverzüglich anzupacken. Wir haben ihn nicht.
Statt dessen tolerieren wir das Unerträgliche: dass unseren Mädchen die Kindheit gestohlen wird. Wir nehmen hin, dass schon Dreijährige so sein wollen wie die Spice Girls. Dass Sechsjährige - so eine kanadische Studie - sich bereits Sorgen über ihr Aussehen im Badeanzug machen. Dass Zwölfjährige ein schlechtes Gewissen beim Essen haben. Und dass die Hauptsorge der meisten 15-Jährigen lautet: Bin ich dünn genug?
Diese Fakten, der Nährboden, auf dem Essstörungen wachsen, werden nicht etwa als soziale Probleme verstanden, die auch sozial gelöst werden müssen, sondern als medizinisches Phänomen, das ein ganz neues Berufsfeld hervorgebracht hat. Natürlich brauchen wir ÄrztInnen und PsychologInnen, die die körperlichen und seelischen Folgen der Epidemie lindern und den Opfern von Hungersucht, Ess-Brechsucht und zwanghaften Fressattacken helfen, ihre Sucht zu bekämpfen. Ich selbst bin eine solche Therapeutin.
Doch wenn wir das kulturelle Umfeld aus den Augen verlieren, dass dieses Suchtverhalten bei Mädchen und Frauen nicht nur fördert, sondern regelrecht zur Norm erklärt; wenn wir die Betroffenen pathologisieren; wenn wir in der Erbmasse nach Proteinmarkern herum stochern, um die "weibliche Disposition zu Essproblemen" nachzuweisen - dann werden wir auf dem falschen Gleis landen und die endlich erwachte Besorgnis und Energie, die diese schlimme Krise bewältigen könnte, würde ins Leere führen.
Westliche moderne Frauen und Mädchen sind heute von einer modernen Variante des chinesischen Füsseverbindens betroffen. Doch ist diese Variante heim- tückischer. Chinesische Mütter brachen ihren Töchtern einst unter Scham und Schmerzen die Zehen, weil sie keine andere Wahl hatten: die Mädchen wären sonst ausgestoßen worden.
Westliche Frauen haben sich heute soziale und ökonomische Positionen erkämpft, die mit der Unterordnung qua Geschlecht nicht vereinbar sind. Westliche Mädchen werden nicht mehr zu Konkubinen, zu Dienerinnen der Männerwelt oder Gebärmaschinen erzogen. Diese Vorstellung ist unserem modernen Konzept von Weiblichkeit, unseren Erwartungen an Mädchen und Frauen, und auch deren eigenen Wünschen und Bedürfnissen sehr fern.
Und doch sind die Beschränkungen und Fesseln, mit denen sie unseren Erwartungen nach ihre Körper zähmen und bezwingen sollen, so erniedrigend, behindernd und verdummend wie die "Bräuche" der Frauen anderswo, die unsere westliche Gesellschaft so verabscheut. Wir bringen unseren Mädchen bei, dass der Körper, in dem sie wohnen, ein unsicherer Ort ist. Wir bringen ihnen bei, dass der Appetit, der Geruch, das Begehren, das Fleisch von Frauen ungehörig, unerwünscht und nicht akzeptabel ist. Als besonders abstoßend gilt der Appetit von Frauen, er ist einfach zu groß. Er muss in Schach gehalten werden.
Es wird heute nicht mehr bestritten, dass das von den Medien geschaffene und propagierte Frauenbild dabei ein wichtiges Mittel der Kontrolle ist. Wir wissen inzwischen, dass das messbare Selbstwertgefühl einer beliebigen Gruppe lebenslustiger Teenagerinnen bereits nach einstündiger Lektüre von Modezeitschriften drastisch in den Keller sinkt. Diese Zeitschriften sind Teil des Apparates, der (Schein)Lösungen für Probleme anbietet, die er selbst mit geschaffen hat.
Der westliche "Brauch", mit Modezeitschriften das weibliche Selbstbewusstsein zu untergraben, ist so effektiv, dass er längst auf Frauen auf dem ganzen Erdball übergegriffen hat. Junge Araberinnen, die den Schleier ablegen; indische Bergbewohnerinnen, die ihre Menschenrechte entdecken; Fidji-Mädchen, die die "Freundinnen"-Serie gucken; Afrikanerinnen, die endlich eigenes Land bewirtschaften - sie alle werden gleichzeitig von Magazinen wie "Marie Claire" in die Geheimnisse des Abnehmens eingeweiht. Das kommt einer Initiation gleich: Diäten sind das Merkmal für die Zugehörigkeit von Frauen zur westlichen Kultur.
Die erste Welt hat keine Kolonien mehr. Die Globalisierung könnte uns durch die Vielfalt der Kulturen, Kleidung, Essgewohnheiten, Hautfarben und Körperformen eine Bereicherung unserer Erfahrungen und Lebensweisen bescheren. Doch statt diese Vielfalt wirklich aufzunehmen und zu genießen, eignen wir uns lediglich hier und da ein paar multikulturelle Accessoires an - hier einen Armreif, da einen Nasenring, dort ein schönes Stück Stoff - und behängen unsere Models damit.
Weil manche von ihnen schwarz sind oder Mandelaugen haben, wirkt das auf den ersten Blick so, als wollten wir die weibliche Vielfalt feiern. Auf den zweiten wird deutlich, dass unsere schwarzen und gelben Schwestern sich alle Mühe geben, sich selbst aufzugeben, um dem gängigen westlichen Frauenideal zu entsprechen: groß und spindeldürr.
Das heißt nicht, dass alle Frauen passive, formbare Dummköpfe sind, die Dinge tun, die sie doch ganz einfach lassen könnten. Die Sache ist subtiler, und es ist wichtig, die sozialen und psychologischen Gründe zu verstehen, warum diese suggestiven Bilder dem Bedürfnis so vieler Frauen entgegenkommen.
Die Vorherrschaft der globalen Marktwirtschaft und des Konsums haben Folgen für unsere Vorstellung von Identität und unserem Platz in der Welt. Statt uns mit der komplizierten und verwirrenden Vielfalt dieses riesigen, fremden Erballs auseinanderzusetzen, versuchen wir, ihn kleiner, handlicher und faßbarer zu machen. Und genau hier greift die geniale Erfindung der Werbeindustrie: das Branding. (Der Begriff stammt aus der Landwirtschaft und bedeutet, das Fell von Schafen oder Kühen mit einem Brandzeichen zu stempeln. Anm. d. Redaktion).
In der Werbebranche bedeutet Branding, Marken zum Kult zu erheben, deren Logos und Bilder zu allgemeingültigen Zeichen der Zugehörigkeit werden. Die Marke ist heute eine, ja die Möglichkeit, dazuzugehören, sich akzeptiert zu fühlen, und dies auch anderen zu signalisieren.
Indem wir Nike tragen, Coca-Cola trinken und bei AOL drin sind, identifizieren wir uns mit den behaupteten ideellen Eigenschaften und Zielen dieser Marken und finden so unsere Heimat in der Welt. Wir sind keine verlorenen Individuen, die zwischen Billionen fremder Menschen unsichtbar sind. Wir sind nicht bedeutungslos. Wir gehören dazu. Bei Frauen kommt nun ein ganz besonderer Aspekt des Branding hinzu: Ihr Körper selbst wird zur Ware und zur Marke gemacht: er wird gebrandmarkt.
Fatalerweise sind es vor allem die Mütter, die bei den Töchtern den Boden dafür bereiten, indem sie ihnen das Gefühl körperlicher Verunsicherung und Unvollkommenheit vermitteln. Die wenigsten Mütter sind mit dem eigenen Essverhalten zufrieden.
Die meisten von ihnen sind selbst Opfer des öffentlichen Hasses auf Frauenkörper. Deshalb sind sie nicht imstande, ihren Töchtern schon beim Stillen zu vermitteln, dass Essen etwas Lustvolles ist. Dieselben Mütter sind stolz auf den Appetit ihrer Söhne. Bei ihren Töchtern fürchten sie, dass großer Appetit zu großen Bedürfnissen, großen Körpern und großen Ambitionen führen könnte - Eigenschaften und Bedürfnisse, die unsere Gesellschaft bei Frauen nicht gerne sieht.
Vor sechs Monaten nahm ich an einem Body Image Summit in London teil, einberufen vom englischen Kabinett. Auf diesem Gipfeltreffen wurden einige vielversprechende Initiativen beschlossen. Doch verließ die Regierung leider die Courage, als die Medien - die ja am Branding und an der Hungersucht verdienen! -  sie wegen "politischer Korrektheit" (sprich Prüderie) attackierten.
Würde es sich statt um Hungern um eine andere Sucht handeln, beispielsweise Zigaretten oder Drogen, die von den Medien mit Hochglanzpostern von glücklich qualmenden oder fixenden Mädchen propagiert würde, wir wären entsetzt. Wir würden die schädlichen Folgen einer solchen Suggestion bekämpfen, Sonderprogramme für Mädchen einrichten, und die Verantwortlichen für die Folgen dieser Bilder haftbar machen.

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